In einem Vorabentscheidungsverfahren aus Finnland (Rs. C-724/17) hat der EuGH erstmals die Möglichkeit, die im Schrifttum sehr umstrittene Frage zu klären, ob die Person desjenigen oder derjenigen, die wegen eines Kartellverstoßes auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden können, nach Art. 101 bzw. 102 AEUV oder nach nationalem Recht zu bestimmen sind.
Bedeutung gewinnt die Frage durch den Umstand, dass sich Art. 101 bzw. 102 AEUV an „Unternehmen“ richten. Unternehmen im Sinne der Art. 101 und 102 AEUV sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wirtschaftliche Einheiten, die aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet werden können. In Bußgeldverfahren ist es daher ständige Praxis der Kommission, dass nicht nur die Gesellschaften, deren Mitarbeiter kartellrechtswidrig gehandelt haben, sondern auch andere konzernverbundene Gesellschaften mit einem Bußgeld belegt werden. Der Zugriff auf Rechtsnachfolger wird unter dem Begriff der wirtschaftlichen Kontinuität zusammengefasst. Die nahezu in allen europäischen Mitgliedstaaten anerkannte Trennung zwischen juristischen Personen ist damit aufgehoben.
Bislang ungeklärt ist jedoch, ob dies aufgrund der Anknüpfung an den Verstoß gegen Art. 101 bzw. 102 AEUV auch im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung gilt.
Generalanwalt Wahl spricht sich in seinen Schlussanträgen vom 6. Februar 2019 nun dafür aus, auch die zivilrechtliche Passivlegitimation unmittelbar anhand von Art. 101 AEUV zu bestimmen. Damit sollen die gleichen Grundsätze wie auch im Bußgeldverfahren Anwendung finden, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zur wirtschaftlichen Einheit und zur wirtschaftlichen Kontinuität.
Dies führt zu der Aufhebung des gesellschaftsrechtlichen Trennungsgrundsatzes, also zu einer Konzernhaftung im Kartelldeliktsrecht. Auch wenn die Rechtsprechung unmittelbar an Art. 101, 102 AEUV anknüpft und sich damit auf das Kartellrecht beschränkt, hätte dies weitreichende Folgen für die gesamte Beratungspraxis sowie für eine Vielzahl von M&A-Transaktionen. Ein Großteil der gegenwärtig rechtssicheren Gestaltungsoptionen wäre obsolet. Die Entscheidung des EuGH darf mit Spannung erwartet werden.
Dr. Jochen Thieme, Berlin
Dr. Thieme ist Rechtsanwalt bei GÖRG und hat zum europäischen Unternehmensbegriff promoviert (Die Haftung der Obergesellschaft in der wirtschaftlichen Einheit, Berlin, 2018)
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