Rechtsverstöße bei Insolvenzverschleppung bilden den Schwerpunkt der Manager-Haftung. Insbesondere Ansprüche auf Rückerstattung von Zahlungen nach Insolvenzreife sind aus Sicht der Insolvenzmasse attraktiv: Das Gesetz lässt die Geschäftsleiter grundsätzlich für alle Zahlungen des Unternehmens ab Insolvenzreife haften. Das geht weit und lässt Insolvenzverwaltern kaum eine Wahl, die Ansprüche zu verfolgen, zumal wenn die Ansprüche durch D&O–Versicherungen gedeckt sind.[i] Daher unternehmen wir auf unserem Blog von Zeit zu Zeit Streifzüge durch praktische Aspekte der Haftung der Geschäftsleiter aus § 15b InsO (Zahlungsverbot) sowie § 15a InsO, § 823 BGB (Insolvenzverschleppung), denen vor Gericht und im Vergleichsgespräch Bedeutung zukommen kann. Der folgende Beitrag ist der zweite dieser Streifzüge. Er widmet sich dem Begriff der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 InsO an. Der ist zentral und man würde meinen, dass seit dem 01.01.1999, als die InsO in Kraft trat und die frühere Konkursordnung, Vergleichsordnung und Gesamtvollstreckungsordnung ablöste, genug Zeit vergangen ist, die Einzelheiten zu klären. In der Tat hat der BGH (IX. ZS) 2005 ein Grundlagenurteil gefällt,[ii] nach dem Zahlungsunfähigkeit, nicht nur eine „Zahlungsstockung“, zu bejahen ist, wenn (1) zum untersuchten Stichtag eine Liquiditätslücke vorliegt, die (2) sich nicht binnen der nächsten drei Wochen absehbar beseitigen lässt und (3) 10% oder mehr „der fälligen Gesamtverbindlichkeiten“ des Schuldners umfasst. Hiernach ermittelt sich Zahlungsunfähigkeit aus einer Kombination der statischen (stichtagsbezogenen) Zahlen des Status mit den dynamischen (zeitraumbezogenen) Zahlen einer Verlaufsrechnung. Nach neueren Entscheiden des BGH reicht unter bestimmten Umständen zum „Nachweis“ der Zahlungsunfähigkeit aber auch eine Serie von Finanzstatus aus. Verändert also der „Nachweis“ das Nachzuweisende? Die Frage ist gravierend, da der Verlaufsrechnung des Drei-Wochen-Zeitraums als prognostischem und Zeitraum-bezogenem Bestandteil der Zahlungsunfähigkeit sowohl rechtliches als auch rechnerisches Gewicht zukommt. Die Berechnung der Deckungslücke allein nach Finanzstatus führt zu deutlich anderen Ergebnissen. Jetzt knüpft aber auch der neue Standard IDW S 11 des Instituts der Wirtschaftsprüfer an die Finanzstatus für die Berechnung der Zahlungsunfähigkeit an, erhöht auf dieser Grundlage die prozentuale „Deckungslücke“ gegenüber dem BGH und warnt, eine Berechnung nach dem BGH berge Haftungsgefahr. Das ist ein starkes Stück: Betriebswirtschaftliche „Standards“ haben (nicht nur bei § 17 InsO) dem Recht zu folgen, nicht umgekehrt. Der kombinierten Berechnung aus statischen und dynamischen Zahlen nach dem BGH liegen rechtliche Wertungsgesichtspunkte zugrunde. Der Nachweis hat sich am Nachzuweisenden auszurichten. Und schließlich kann verfrühte Insolvenzanmeldung ebenso Schaden stiften wie verspätete. Daher kann sich der Warnhinweis von IDW S 11, die Anwendung der erwähnten Formel des BGH berge für den Gutachter Haftungsrisiken, ins Gegenteil verkehren. All‘ dies ist Grund genug, die angeschnittenen Themen für die Praxis näher zu beleuchten.
- § 15b InsO: Ausgangspunkte
[Dazu siehe Streifzug 1 vom 20.08.2024].
- Fragen rund um die Zahlungsunfähigkeit: Rechtliche Tomograhien
Die Zahlungsfähigkeit hat zentrale rechtliche Bedeutung: Sie löst nach §§ 17, 15a InsO die Pflicht aus, Insolvenzantrag zu stellen. Sie ist Voraussetzung für die Haftung der Geschäftsleitung aus § 15a InsO, § 823 BGB wegen Insolvenzverschleppung und für die Haftung aus § 15b InsO wegen Zahlungen bei Zahlungsunfähigkeit. Sie ist wichtiges Tatbestandsmerkmal im Anfechtungsrecht der §§ 129 ff. InsO. Und sie entscheidet schließlich darüber, ob noch ein Restrukturierungsverfahren nach StaRUG möglich ist: Ein solches Verfahren ist nur bei drohender, nicht mehr bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit möglich. Um die Zahlungsfähigkeit kreisen daher viele Urteile.
- Ausgangspunkte
Nach § 17 Abs. 2 InsO ist ein Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist damit das auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhende Unvermögen des Schuldners, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu begleichen.[iii] Sie ist nach dem BGH von der bloßen Zahlungsstockung abzugrenzen, also einer nur vorübergehende Unfähigkeit, die fälligen Verbindlichkeiten vollständig zu begleichen; der Zeitraum, innerhalb dessen die Zahlungsstockung beseitigt sein muss, beträgt nach dem BGH drei Wochen.[iv] Vor diesem Hintergrund muss bei der Abgrenzung grundsätzlich in zwei Schritten vorgegangen werden:[v] Zunächst muss ein stichtagsbezogener „Finanzstatus“ (der BGH spricht auch von „Liquiditätsstatus“) erstellt werden. Dieser hat die zu einem Stichtag verfügbaren Finanzmittel den zu diesem Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenüberzustellen.[vi] Weist der Finanzstatus aus, dass der Schuldner seine fälligen Zahlungsverpflichtungen erfüllen kann, ist zum betreffenden Stichtag Zahlungsunfähigkeit zu verneinen. Ergibt sich aus dem Finanzstatus das Gegenteil, so müssen der Finanzstatus um eine Prognose für die nächsten drei Wochen ergänzt und die beiden Rechnungen sodann in einer „Liquiditätsbilanz“ zusammengeführt werden. Der Begriff „Liquiditätsbilanz“ des BGH ist unglücklich, weil er den statischen (stichtagsbezogenen) Begriff „Bilanz“ mit einer zusätzlichen dynamischen (Zeitraum-)Betrachtung füllt: In die „Liquiditätsbilanz“ sind auf der Aktivseite neben den am Stichtag verfügbaren Finanzmitteln (Aktiva I) die Mittel einzubeziehen, die erwartetermaßen binnen drei Wochen zufließen werden oder flüssig gemacht werden können (Aktiva II) und sodann zu den am Stichtag fälligen und eingeforderten Zahlungsverbindlichkeiten (Passiva I) sowie den Zahlungsverbindlichkeiten, die erwartetermaßen innerhalb von drei Wochen fällig und eingefordert werden (Passiva II), in Beziehung zu setzen,[vii] also Aktiva I + II : Passiva I + II. Beträgt der Zähler 90%[viii] oder weniger des Nenners, ist nach dem BGH regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern „nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die betreffende Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zumutbar ist“. Dieser sich an das Ende des Dreiwochenzeitraums anschließende weitere Zeitraum kann in Ausnahmefällen drei bis unter Umständen auch längstens sechs Monate betragen.[ix] Hierfür muss der Geschäftsleiter entsprechende Indizien vortragen und beweisen.[x]
- Finanzstatus
Im Finanzstatus werden die verfügbaren liquiden Finanzmittel des Unternehmens sowie dessen fällige Verbindlichkeiten erfasst und gegenübergestellt. Dabei sind sämtliche fälligen Zahlungsverpflichtungen und nicht nur die durch Mahnung eingeforderten oder klageweise geltend gemachten zu berücksichtigen. Erforderlich und ausreichend ist, dass der Gläubiger die Zahlung verlangt.[xi]
- „Liquiditätsbilanz“ im Sinne des BGH
Ergibt der Finanzstatus eine Liquiditätslücke, ist dieser durch Darstellung der erwarteten Ein- und Auszahlungen in einem ausreichend detaillierten Finanzplan auf Basis einer nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen aufzustellenden, aus der Unternehmensplanung abzuleitenden Finanzplan[xii] zu ergänzen. Bei den Mittelzuflüssen sind die Zuflüsse aus den geplanten Umsatzgeschäften ebenso zu berücksichtigen wie sonstige einzahlungswirksame Vorgänge.[xiii] Bei den Mittelabflüssen sind die bereits bestehenden und entstehenden Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, soweit sie innerhalb des Prognosezeitraums fällig werden.[xiv]
Ergibt diese „Liquiditätsbilanz“ (betriebswirtschaftlich ein von einem anfänglichen Finanzstatus ausgehender „Finanzplan“), dass die anfängliche Liquiditätslücke geschlossen wird, liegt eine bloße Zahlungsstockung und damit keine Zahlungsunfähigkeit vor. Eine zeitliche Ausdehnung des Finanzplans ist in diesem Fall nicht erforderlich; künftig zu erwartende Liquiditätslücken sind aus Sicht des Beurteilungszeitpunkts nicht als eingetretene, sondern als drohende Zahlungsunfähigkeit zu qualifizieren.[xv]
- BGH: Nachweis durch „tomographische“ Finanzstatus
Die Anforderungen des BGH an eine „Liquiditätsbilanz“ sind komplex und in der Praxis nicht immer einfach zu erfüllen. Im (Anfechtungs- und Haftungs-) Prozess werden daher auch abweichende Berechnungen vorgelegt, insbesondere Serien von Finanzstatus für aufeinanderfolgende Stichtage, gleichsam, wie erwähnt, rechtliche „Tomographien“, die per schichtweiser Darstellung ein Bild des Objekts ergeben sollen. Der BGH ist Klägern hierbei mehrfach entgegengekommen. Freilich schlagen diese prozessualen Beweiserleichterungen sachlich nicht auf die materiellen Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit durch.
- Ausgangspunkt: Prozessuale Darlegungslast
Kaum ein BGH-Entscheid zur Zahlungsunfähigkeit kommt ohne den einleitenden Hinweis aus, dass eine Partei ihrer zivilprozessualen Darlegungslast genügt, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen.[xvi]
- Unterschied zwischen Prognose (Anmeldepflicht) und nachträglicher Feststellung (Anfechtungsprozess)
Auf dieser Grundlage hat zunächst der IX. Zivilsenat des BGH in einem Entscheid von 2006 [xvii] in Anfechtungsprozessen eine Liquiditätsbilanz für nicht erforderlich gehalten, wenn anderweitig festgestellt werden kann, dass der Schuldner einen wesentlichen Teil seiner fälligen Verbindlichkeiten „nicht bezahlen konnte“. Eine „Liquiditätsbilanz“ sei nur nötig, wenn eine Prognose erforderlich sei, also bei der Frage, ob Insolvenzantrag zu stellen ist. Im (retrospektiven) Anfechtungsprozess lässt sich nach dem BGH “auch auf andere Weise feststellen, ob und was der Schuldner zahlen konnte“. Wo im kritischen Zeitraum fällige Verbindlichkeiten bestanden, die bis zur Verfahrenseröffnung nicht mehr beglichen wurden, sei regelmäßig von der Zahlungsunfähigkeit zu der betreffenden Zeit auszugehen. Etwas anderes gelte im Anfechtungsprozess nur, wenn auf Grund konkreter Umstände, die sich nachträglich geändert haben, damals angenommen werden konnte, der Schuldner werde rechtzeitig in der Lage sein, die Verbindlichkeiten zu erfüllen. Dass nicht lediglich eine Zahlungsstockung vorlag, ei daher im Nachhinein ohne weiteres feststellbar. Es bedürfe daher „insoweit keiner Prognose“. [xviii]
2022 hat der IX. Zivilsenat dies - wieder für den Anfechtungsprozess – dahin ergänzt, es reiche aus, wenn der Kläger „einen von ihm selbst erstellten Finanzstatus“ zum Ausgangsstichtag sowie „einen Finanzplan“ für die folgenden drei Wochen mit „tagesgenauer“ Gegenüberstellung von Einzahlungen und Auszahlungen vorlegt und auf dieser Grundlage vorträgt, „dass die Liquiditätslücke an keinem der einzelnen Tage in diesem Zeitraum geringer als 77 % gewesen sei“.[xix] Hierbei ist die Verwendung des Begriffs „Finanzplan“ inkorrekt; denn der klagende Insolvenzverwalter hatte die Ist-Zahlungen vorgelegt, also eine retrospektive, taggenaue Finanzflussrechnung und gerade keinen Finanz-„Plan“, der ex ante zu erwartende Ein- und Auszahlungen prognostizierte.[xx]
Die unscharfe Terminologie korrespondiert mit einem sachlichen Mangel des Urteils: Aus dem Umstand, dass eine Verbindlichkeit bis Verfahrenseröffnung nicht gezahlt wurde, ist nicht zwingend auf unzureichende Finanzmittel zu schießen. Dem Schuldner können binnen drei Wochen zu aktivierende Finanzreserven zu Gebote stehen, die er nicht einlöst, weil er die Zeit hierfür noch nicht für gekommen sieht, z.B. Schnellverkäufe aus einem (rollierenden) Warenlager, kurzfristig zu aktivierende Finanzreserven (z.B. Bausparverträge) oder leistungswirtschaftliche Reserven (Skontonutzung, Kurzarbeit etc.). Diese Finanzreserven fließen in einen Finanzstatus nicht ein. Sie sind aber nach der Grundlagenentscheidung des IX. Zivilsenats des von 2005 zu berücksichtigen, nach der eine finanzielle Unterdeckung an einem Tag nicht zur Zahlungsunfähigkeit führt, sondern der Schwellenwert von 10% und vor allem die finanziellen Zu- und -abflüsse der folgenden drei Wochen zu berücksichtigen sind.[xxi] Dies setzt einen (aus Sicht des Stichtags aufzustellenden) „Plan“ voraus. Vermutlich lagen in den beiden Entscheidungen des IX. Zivilsenats von 2006 und 2022 keine Planzuflüsse vor, so dass die Urteile hierauf nicht zu sprechen kommen. Eine Abkehr von den ausführlichen Ausführungen des Urteils von 2005 liegt in den begründungslosen und kursorischen Feststellungen der Urteile von 2006 und 2022 aber nicht. Es zeichnet sich aber bereits hier die Diskrepanz ab, die zur erwähnten Abkehr des IDW S 11 vom BGH-Konzept des „Liquiditätsplans“ geführt hat.
- Nachweismöglichkeiten im Prozess nach § 15b InsO
- Beschränkung auf retrospektive Betrachtungen
- Nachweismöglichkeiten im Prozess nach § 15b InsO
Die Beweiserleichterungen gelten nicht für Prognosen im Rahmen des § 15a InsO. Dies hat der IX. Zivilsenat, wie dargelegt, in seinem Urteil von 2006 ausführt und in seinem kursorischen Urteil von 2022 nicht in Frage gestellt. Zu betonen ist dabei, dass diese Unterscheidung weder gegen den erwähnten Grundsatz verstößt, dass § 17 Abs. 2 S. 1 InsO „allein aufgrund der objektiven Umstände“ zu beurteilen sei[xxii], noch gegen den Grundsatz, dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit in § 15b InsO nicht anders verstanden werden könne als in § 17 InsO, weil für den Beginn des Zahlungsverbots „in objektiver Hinsicht die bestehende Insolvenzreife“ genügt.[xxiii] Denn die skizzierten Beweiserleichterungen betreffen nicht den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit als solchen, sondern beschränken sich auf die prozessuale Substantiierungs- und Beweislast. Gelten die vom IX. Zivilsenat für Anfechtungsprozesse eingeräumten Beweiserleichterungen mithin nicht für die (ex ante zu treffende) Prognose im Rahmen der Insolvenzantragspflicht nach §§ 17, 15a InsO, so kann sie auch nicht für den Haftungsprozess aus § 15a InsO, § 823 BGB wegen Insolvenzverschleppung gelten. Denn auch in einem solchen Haftungsprozess wird die ex ante Sicht beurteilt, also „objektiv“ nicht in der Rückschau, sondern prognostisch im Rahmen des dreiwöchigen Finanzplans aus Sicht des Stichtags des Finanzstatus. Das muss im Ausgangspunkt auch für Prozesse nach § 15b InsO gelten; denn auch beim Zahlungsverbot bei Insolvenzreife kommt es (wie bei § 15a InsO) auf die ex ante gestellte Prognose an.
- Rechtsprechung des II. Zivislsenats
Allerdings hat der BGH (II. Zivilsenat) für das Zahlungsverbot bei Insolvenzreife ebenfalls andere Mittel als eine Liquiditätsbilanz zum Nachweis der Zahlungsunfähigkeit eröffnet:
In einem Urteil vom 28.06.2022 hatte der II. Zivilsenat des BGH einen Fall (nach § 64 GmbHG) zu beurteilen, in dem der klagende Insolvenzverwalter „eine erhebliche Liquiditätslücke für einen Zeitraum von drei Wochen ab 31.12.2012“ dargetan hatte. Dort wiederholte der BGH, dass Zahlungsunfähigkeit nicht nur durch eine Liquiditätsbilanz, sondern kann auch mit anderen Mitteln dargelegt werden kann, allerdings ohne dies auf Anfechtungsprozesse zu beschränken. Zulässig ist nach dem II. Zivilsenat des BGH auch
(1) ein „Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau Einzahlungen und Auszahlungen gegenübergestellt werden“;[xxiv] hier verweist der II. Zivilsenat auf die obige Entscheidung des IX. Zivilsenats von 2006 (in dem die Verwendung des Begriffs „Finanzplan“ inkorrekt ist; siehe oben); und
(2) „mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl, in denen ausgehend von dem am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden Status an keinem der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tag die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann“; auch hier ging es um eine Serie von Status, die nachträglich erstellt worden waren. [xxv] Auf dieser Grundlage reichte es dem II. Zivilsenat BGH aus, dass der Kläger (i) für die Unterdeckung von 54,8 % der verfügbaren Mittel gegenüber den fälligen Verbindlichkeiten am Stichtag einen Bericht eines Wirtschaftsprüfers vorlegte und (ii) für den 07.01.2013, für den 16.01.2013 und für den 21.01.2013 Unterdeckungen von 44,3 %, von 62,7 % bzw. von 45,7 % vortrug und ebenfalls durch den Bericht eines Wirtschaftsprüfers unterlegte.
Hiernach hätten Kläger für § 15b InsO nach dem II. Zivilsenat des BGH drei Nachweismethoden: (1) „Liquiditätsbilanz“, (2) Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Verzeichnis für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau die Ist-Einzahlungen und Ist-Auszahlungen gegenübergestellt werden und die Liquiditätslücke an allen Tagen in diesem Zeitraum erheblich ist (im Streitfall an keinem Tag geringer als 77 %), und (3) mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus „in aussagekräftiger Anzahl“, in denen ausgehend von dem am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden Status an keinem der im „Prognosezeitraum“[xxvi] liegenden bilanzierten Tag die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann. Die vom II. Zivilsenat angesprochenen Methoden (2) und (3) sind hiernach retrospektiv. Methoden (2) und (3) unterscheiden sich praktisch nur in der Zahl der Status.
- Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung des II. Zivilsenats
Nun stützt der II. Zivilsenat sich in seinem Urteil von 2022 wesentlich auf die Anfechtungsrechtsprechung des IX. Zivilsenats. Freilich wurde bereits oben 2 b) dargelegt, dass in den betreffenden Urteilen des IX. Zivilsenats keine Abkehr vom Erfordernis gesehen werden kann, die Zahlungsströme des Drei-Wochen-Zeitraums zu berücksichtigen. Bei der Übertragung der Methoden (2) und (3) auf § 15b InsO lässt der II. Zivilsenat aber zudem außer Acht, dass zwar auch ein Prozess nach § 15b InsO - wie ein Anfechtungsprozess - retrospektiv geführt wird. Jedoch geht es hier (wie im Prozess nach § 15a InsO, § 823 BGB) um die retrospektive Beurteilung, ob im Zahlungszeitraum (ex ante) von Zahlungsunfähigkeit auszugehen war. Diese Frage enthält prognostische Elemente. Auch hiernach ist zu bezweifeln, ob die retrospektiven Methoden (2) und (3) für § 15b InsO wirklich gelten können.
Entscheidend kommt hinzu, dass die dargelegte Rechenmethode der „Liquiditätsbilanz“ (AI + AII : PI + PII) [xxvii] zu deutlich anderen Deckungsquoten gelangt als die Methoden (2) und (3), die sich auf Serien von Finanzstatus stützen, und zwar auch dann, wenn die ex post – Zahlen der retrospektiven Methoden (2) und (3) mit den ex ante-Zahlen übereinstimmen. Dies wird im Einzelnen im nächsten Blog-Beitrag (Streifzug 3) dargelegt. Nun sollen Methoden (2) und (3) den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit nicht inhaltlich verändern, sondern lediglich deren Beweis im Prozess erleichtern. Der Nachweis ist am Nachzuweisenden auszurichten, nicht umgekehrt. Diesen Zweck würden sie verfehlen, wenn die mit ihrer Hilfe errechnete Deckungslücke von der Deckungslücke gemäß „Liquiditätsbilanz“ abweicht. Nun weichen die Methoden (2) und (3) von der vom BGH selbst ausführlich vorgegebenen Deckungslückenberechnung ab. Sie sind daher jedenfalls dann nicht haltbar, wenn man sie nicht nur als Beweiserleichterungen ansieht.
- Beweisrechtliche Lage
Prozessual kommt hinzu: Auch wenn man die Beweismethoden (2) und (3) des II. Zivilsenats akzeptieren wollte, so muss jedenfalls gelten, was der IX. Zivilsenat selbst für das (retrospektive) Anfechtungsrecht ausgeführt hat: Dort kann der Beklagte einwenden, dass „auf Grund konkreter Umstände, die sich nachträglich geändert haben, damals angenommen werden konnte, der Schuldner werde rechtzeitig in der Lage sein, die Verbindlichkeiten zu erfüllen“.[xxviii]
Angesichts der inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Methoden (2) und (3) einerseits und der „Liquiditätsbilanz“ andererseits kommt diesem Einwand bei Klägervortrag gemäß Methode (2) oder (3) im Haftungsprozess nach § 15a InsO, § 823 BGB und nach § 15b InsO freilich nicht nur prozessuale Bedeutung für die Substantiierungs- und Beweislast zu. Greift der Einwand durch, so korrigiert er vielmehr die Ergebnisse der Methoden (2) und (3) auch inhaltlich. Zu beachten ist hier auch die sekundäre Beweislast des Klägers: Ist im Haftungsprozess der Beklagte mit der Darlegung entlastender oder entgegenstehender Tatsachen belastet, die ihm nicht (mehr) bekannt sind oder unzumutbare Aufklärungsanstrengungen abfordern, während die Gesellschaft (hier typischerweise: der Insolvenzverwalter) zumutbar Auskunft geben kann, muss sie dies tun; soweit dies der Fall ist, kann sie der Gegenseite nicht lediglich mangelnde Substantiierung vorwerfen oder mit Nichtwissen bestreiten, sondern muss selbst vortragen; andernfalls greifen § 138 Abs. 2 und die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO (Geständnisfiktion).[xxix] In den hier in Rede stehenden Prozessen führt dies zu den Pflichten der Insolvenzverwalters, Unterlagen, insbesondere Buchhaltungsunterlagen, des Schuldners zu sichern.[xxx] Diese sind hier nicht zu verhandeln.
All‘ dies ist nicht nur eine Frage des Verschuldens, sondern des Tatbestands der Zahlungsunfähigkeit.[xxxi]
- Zwischenfazit
Eine Abkehr von den ausführlichen Ausführungen des Urteils des IX. ZS von 2005 und des II. ZS von 2017, wonach ein Liquiditätsplan für den dem betreffenden Stichtag folgenden Drei-Wochen-Zeitraum aufzustellen ist, liegt in den Nachweiserleichterungen des BGH nicht. Unverändert ist es daher z.B. zu berücksichtigen, wenn dem Schuldner binnen drei Wochen zu aktivierende Finanzreserven zu Gebote stehen, die er nicht einlöst, weil er die Zeit hierfür noch nicht für gekommen sieht. Der Nachweis muss dem Nachzuweisenden folgen, nicht umgekehrt. Daher ist auch IDW S 11 nicht zu folgen. Dies wird im nächsten Streifzug im Einzelnen ausgeführt.
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[i] BGH, Urt. v. 18.11. 2020 - IV ZR 217/19.
[ii] BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 3 der Gründe.
[iii] Standard S 11 des Instituts der Wirtschaftsprüfer „Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen“, Neufassung vom 20.05.2024 („IDW S 11“), Rn. 13, IDW Life 2024, 673 ff. Dieser IDW Standard ersetzt den IDW Prüfungsstandard: Empfehlungen zur Prüfung eingetretener oder drohender Zahlungsunfähigkeit bei Unternehmen (IDW PS 800) i. d. F. vom 06.03.2009 und die IDW Stellungnahme des Fachausschusses Recht 1/1996: Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen (IDW St/FAR 1/1996).
[iv] BGH, Urt. v. 24.05. 2005 - IX ZR 123/04, unter II 2a der Gründe, BGHZ 163, 134, 138 ff.; Urt. v. 21.06.2007 - IX ZR 231/04, ZIP 2007, 1469 Rn. 37; Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 32 f.; IDW S 11 Rn. 14, 15.
[v] BGH, Urt. v. 24.05. 2005 - IX ZR 123/04, unter II 2b der Gründe, BGHZ 163, 134; IDW S 11 Tz. 23 ff.; BGH, Urt. v. 18.07.2013 - IX ZR 143/12, ZIP 2013, 2015 Rn. 7; BGH, Urt. v. 28.04.2022, IX ZR 48/21, Rn. 18; IDW S 11, Rn. 13, IDW Life 2024, 673 ff.
[vi] BGH, Beschl. v. 19.07.2007 – IX XB 36/07, Rn. 18; IDW S 11, Rn. 26 ff.
[vii] BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34, 41 ff., 62.
[viii] Zur Herleitung der 10%-Grenze BGH, Urt. v. 24.05. 2005 - IX ZR 123/04, unter II 4b der Gründe, BGHZ 163, 134, 138 ff.
[ix] BGH, Urt. v. 24.05. 2005 - IX ZR 123/04, unter II 4b der Gründe, BGHZ 163, 134, 138 ff.: „überschaubare Zeit“; BGH, Urt. v. 28.06.2022, II ZR 112/21, Rn. 12; IDW S 11 Rn. 16, 25.
[x] Zu den unterschiedlichen Anforderungen je nach Zeitraum und Höhe der Deckungslücke IDW S 11, Rn. 17 f.
[xi] BGH, Beschl. v. 19.07.2007 – IX ZB 36/07, Rn. 18; IDW S 11 Rn. 26.
[xii] Näher IDW S 11, Rn. 34.
[xiii] IDW S 11 Rn. 37.
[xiv] IDW S 11 Rn. 38
[xv] IDW S 11 Rn. 39.
[xvi] BGH, Urt. v. 28.06.2022, II ZR 112/21, Rn. 11; BGH, Urt. v. 21.05. 2007 - II ZR 266/04, ZIP 2007, 1524 Rn. 8; std. Rspr.
[xvii] BGH, Urt. v. 12.10.2006 - IX ZR 228/03, Rn. 28.
[xviii] BGH, Urt. v. 12.10.2006 - IX ZR 228/03, Rn. 28.
[xix] BGH, Urt. v. 28.04.2022 – IX ZR 48/21, Rn. 18, 39
[xx] So auch IDW S 11, Rn. 25, Fn. 60.
[xxi] BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 3 der Gründe.
[xxii] BGH, Urt. v. 12.10.2006, IX ZR 228/03, Rn. 28.
[xxiii] BGH, Urt. v. 24.05. 2005 - IX ZR 123/04, unter II 1 der Gründe mit Hinweis auf BGHZ 143, 184, 185.
[xxiv] BGH, Urt. v. 28.06.2022 – II ZR 112/21, Rn. 14, unter Verweis auf BGH, Urt. v. 28.04.2022 - IX ZR 48/21, Rn. 18, 39, WM 2022, 1287, Rn. 18.
[xxv] BGH, Urt. v. 28.06.2022 – II ZR 112/21, Rn. 14.
[xxvi] Auch in diesem Verfahren bildeten die vorgelegten Status die Ist-Zahlen der Vergangenheit im betreffenden Drei-Wochen-Zeitraum ab; der Begriff „Prognosezeitraum“ soll also ersichtlich nicht darauf hindeuten, es gehe um eine aus ex ante Sicht vorgenommene Prognose, sondern nur den Beurteilungszeitraum von drei Wochen bezeichnen.
[xxvii] BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34, 41 ff., 62.
[xxviii] BGH, Urt. v. 12.10.2006, IX ZR 228/03, Rn. 28; Urt. v. 24.05.2005, IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134, 138.
[xxix] BGH, Urt. v. 05.05.2016 – II ZR 311/14, NZG 2016, 783, Rn. 19; Urt. v. 11.04.2013, - I ZR 61/12, VersR 2014, 726, Rn. 31; Lange, Die prozessuale Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit der Gesellschaft im Managerhaftungsprozess, Festschrift für Reuter, 2021, 209, 219.
[xxx] Ein Insolvenzverwalter hat die Geschäftsunterlagen des Insolvenzschuldners sorgfältig und geordnet aufzubewahren, und zwar geordnet, vgl. z.B. Runkel in: FS Heinz Vallender, 2015, 555, 560; Ruchatz, AG 2015, 1, 3; BeckOGK/Traut, 01.10.2020, § 238 HGB, Rn. 56. Diese Pflichten beziehen sich auf den Zeitraum vor und nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, LG Frankfurt/Oder NZI 2007, 294, 295; MüKo InsO/Jaffé, 4. Auflage 2019, § 155 InsO, Rn. 4.
[xxxi] Zum Verschulden z.B. BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 2 b der Gründe; BGHZ 143, 184, 185; BGH, Urt. v. 01.03.1993 - II ZR 61/92, WM 1994, 1030, 1031.