Einleitung
Ansprüche auf Rückerstattung von Zahlungen nach Insolvenzreife sind aus Sicht der Insolvenzmasse attraktiv: Das Gesetz lässt die Geschäftsleiter grundsätzlich für alle Zahlungen des Unternehmens ab Insolvenzreife haften. Hier laufen schnell hohe Beträge auf. Die Ansprüche unterfallen zudem nach der Rechtsprechung des BGH regelmäßig der Deckung durch D&O – Versicherungen.[1] Daher nimmt es nicht wunder, wenn Rechtsverstöße bei Insolvenzverschleppung nach Fallzahlen den Schwerpunkt der Manager-Haftung bilden. Daher sollen auf unserem Blog von Zeit zu Zeit Streifzüge durch praktische Aspekte des § 15b InsO unternommen werden, denen vor Gericht und im Vergleichsgespräch Bedeutung zukommen kann. Der folgende Beitrag ist der dritte dieser Streifzüge. Er nimmt sich – wie schon Streifzug 2 - des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 InsO an. In der Tat hat der BGH (IX. ZS) 2005 ein Grundlagenurteil gefällt,[2] nach dem Zahlungsunfähigkeit zu bejahen ist, wenn (1) zum untersuchten Stichtag eine Liquiditätslücke vorliegt, die (2) sich nicht binnen der nächsten drei Wochen absehbar beseitigen lässt und (3) 10% oder mehr „der fälligen Gesamtverbindlichkeiten“ des Schuldners umfasst. Auch der II. ZS hat 2017 bestätigt[3], dass sich Zahlungsunfähigkeit aus einer Kombination der statischen (stichtagsbezogenen) Zahlen des Status mit den dynamischen (zeitraumbezogenen) Zahlen einer Verlaufsrechnung ermittelt. Nach neueren Entscheiden des BGH soll unter bestimmten Umständen zum „Nachweis“ der Zahlungsunfähigkeit aber auch eine Serie von Finanzstatus ausreichen. Verändert also der „Nachweis“ das Nachzuweisende? Die Frage hat sowohl rechtliches als auch rechnerisches Gewicht. Die Berechnung der Deckungslücke allein nach Finanzstatus führt zu deutlich anderen Ergebnissen. Jetzt knüpft auch der neue Standard IDW S 11 des Instituts der Wirtschaftsprüfer an die Finanzstatus für die Berechnung der Zahlungsunfähigkeit an, erhöht auf dieser Grundlage die prozentuale „Deckungslücke“ gegenüber dem BGH und warnt, eine Berechnung nach dem BGH berge Haftungsgefahr. In unserem 2. Streifzug vom 06.10.2024 haben wir demgegenüber dargelegt, dass in den Nachweiserleichterungen des BGH keine Abkehr von den ausführlichen Ausführungen der Urteile des IX. ZS von 2005 und des II. ZS von 2017 liegt, wonach ein Liquiditätsplan für den dem betreffenden Stichtag folgenden Drei-Wochen-Zeitraum aufzustellen ist. Dies ergibt sich aber nicht nur aus dem prozessualen Kontext dieser neueren Urteile, sondern auch aus den materiellen Wertungen, die den Urteilen von 2005 und 2017 zugrunde liegen. Daher ist auch IDW S 11 nicht zu folgen. Dies wird im Folgenden im Anschluss an den 2. Streifzug vom 06.10.2024 dargelegt.
§ 15b InsO: Ausgangspunkte
[Dazu siehe Streifzug 1 vom 20.08.2024].
Fragen rund um die Zahlungsunfähigkeit: Rechtliche Tomograhien
[Welche Bedeutung der Begriff der Zahlungsfähigkeit hat und wie der BGH ihn in seinen erwähnten Urteilen von 2005 und 2017 ausgelegt hat, ist im Streifzug 2 vom 06.10.2024 ausgeführt.]
Unterschiede in den Berechnungsweisen der „Liquiditätsbilanz“ einerseits und IDW S 11 sowie Methoden (2) und (3) andererseits
Unterschiede in Rechenweg und Ergebnis
Nach IDW S 11 soll die „Deckungslücke“ im Rahmen der Liquiditätsbilanz anders als nach den Entscheiden des BGH von 2005 und 2017 ohne Prognose, sondern nur nach Finanzstatus berechnet werden.[4] Dem zu folgen, ist riskant:
Wie in Streifzug 2 dargelegt, rechnet der BGH in seiner „Liquiditätsbilanz“ auf der Aktivseite neben den am Stichtag verfügbaren Finanzmitteln (Aktiva I) die Mittel ein, deren Zufluss binnen drei Wochen zu erwarten ist oder die in diesem Zeitraum flüssig gemacht werden können (Aktiva II). Diese Summe setzt der BGH zu den am Stichtag fälligen und eingeforderten Zahlungsverbindlichkeiten (Passiva I) sowie den Zahlungsverbindlichkeiten ins Verhältnis, die in den nächsten drei Wochen fällig und eingefordert werden (Passiva II) also Aktiva I + II : Passiva I + II [5]:
Das ist ein Bruch. Ausgedrückt in Prozent ergibt sich:
Deckungsanteil in %=AI+AIIPI+PII . 100%
Die Deckungslücke beträgt dann: 100% – Deckungsanteil.
Als einfaches Zahlenbeispiel sei verwandt: AI = 5, AII = 4, PI = 6 und PII = 4. Hiernach bestand am Stichtag gemäß Finanzstatus eine Deckungslücke von (AI – PI =) –1, d.h. bezogen auf PI eine Deckungslücke von 1 : 6 = 16,6% (gerundet). Im nachfolgenden Drei-Wochen-Zeitraum entsprachen die zuwachsenden Aktiva (AII = 6) den zuwachsenden Passiva (PII = 6). Die Deckungslücke des Finanzstatus (AI – PI = -1) hat sich in absoluten Zahlen also nicht geändert: AI + AII – PI – PII = –1. Gleichwohl hat sich nach der Formel des BGH die verhältnismäßige Unterdeckung verringert, weil AI + AII ins Verhältnis zu PI + PII gesetzt werden. Hiernach ergibt sich
Deckungsanteil in %=5+46+4 . 100 = 90%.
Die Deckungslücke beträgt dann (100% - Deckungsanteil =) 10%, nicht mehr 16,6%. Obwohl sich die Deckungslücke in absoluten Zahlen nicht geändert hat (–1), hat sie sich prozentual verringert, weil sich die Bezugsbasis vergrößert hat.
IDW S 11, Rn. 51, 25, lehnt diesen aus der BGH-Rechtsprechung folgenden „Volumeneffekt“ aus rechnerischen Gründen ab, weil er tendenziell kleinere Liquiditätslücken und damit den späteren Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach sich zieht. Statt dessen schlägt IDW S 11 vor, die Deckungslücke zunächst als absolute Zahl (AI + AII – PI – PII) zu berechnen (in unserem Beispiel – 1) und dann (nicht ins Verhältnis zu PI + PII, sondern nur) ins Verhältnis zu PI zu setzen. Nach IDW S 11 verbleibt es also bei der Deckungslücke von (1 : 6 =) 16,6%. Hierfür scheint zu sprechen, dass die Summen, die der BGH in der Formel Aktiva I + II : Passiva I + II bildet, dem Umstand nicht Rechnung tragen, dass im Drei-Wochen-Zeitraum die Aktiva I (ganz oder teilweise) rasch eingehen und die Passiva I (ganz oder teilweise) rasch getilgt werden.[6] Hierdurch sinkt die Bezugsbasis. Auch planerisch bleiben daher in einem auf den letzten Tag des Drei-Wochen-Zeitraums berechneten Finanzstatus die dann gegebenen Aktiva I und Passiva I hinter der am Ausgangsstichtag berechneten Summe AI + AII bzw. PI + PII zurück. IDW S 11 schlägt, wie erwähnt, statt dessen in Anlehnung an die BGH-Entscheidungen, die im Streifzug 2 vom 06.10.2024 vorgestellt wurden, eine Serie von Finanzstatus „in aussagekräftiger Anzahl“ vor. Dies soll für ex ante Prognosen, als auch für retrospektive Betrachtungen gelten.[7]
Rechtliche Vorzugswürdigkeit der „Liquiditätsbilanz“
Welcher Rechenweg ist nun richtig? Das IDW verkennt, dass dies keine rechnerische, sondern eine Rechtsfrage ist. Rechtlich ist dem BGH zu folgen:
- aa) Urteil von 2006
Der BGH (IX. ZS) hat in seiner Entscheidung von 2006 (vgl. Streifzug 2 vom 06.10.2024) im Zusammenhang mit einem Anfechtungsprozess ausgeführt, für eine Liquiditätsbilanz für Zwecke des § 17 Abs. 2 S. 1 InsO seien „die im maßgeblichen Zeitpunkt verfügbaren und innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel in Beziehung zu setzen zu den am selben Stichtag fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten“.[8] Die Formulierung ist nicht ganz klar. Da es sich um „denselben“ Stichtag dreht und unmittelbar davor von den Mitteln gesprochen wird, die im Drei-Wochen-Zeitraum flüssig gemacht werden können, dürfte der BGH auch hier den letzten Tag des Drei-Wochen-Zeitraums meinen. In der Entscheidung des II. ZS vom 19.01.2017, die hierauf Bezug nimmt, wird der Rechenweg entsprechend nach der Formel AI + AII : PI + PII vorgegeben.[9]
bb) Bedeutung der Methoden (2) und (3)?
Anderes ergibt sich auch nicht aus den im Streifzug 2 vom 06.10.2024 näher dargelegten Entscheidungen des IX. und II. Zivilsenats zu den zu Nachweiszwecken neben der „Liquiditätsbilanz“ (Methode (1)) erlaubten Methoden (2) und (3), also:
Methode (2): Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Verzeichnis für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau die Ist-Einzahlungen und Ist-Auszahlungen gegenübergestellt werden und die Liquiditätslücke an allen Tagen in diesem Zeitraum erheblich ist (im Streitfall an keinem Tag geringer als 77 %), und
Methode (3): Mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus „in aussagekräftiger Anzahl“, in denen ausgehend von dem am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden Status an keinem der im „Prognosezeitraum“[10] liegenden bilanzierten Tag die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann.
Methoden (2) und (3) sind beide retrospektiv und unterscheiden sich kaum. Diese Methoden addieren allerdings weder AI + AII, noch PI + PII. Sie umfassen keine Verlaufsrechnung für den Drei-Wochen-Zeitraum, sondern nur mehrere Finanzstatus. Sie vermeiden danach den von IDW S 11 kritisierten Volumeneffekt, weil die Status eines jeden Serien-Stichtags die zu dem betreffenden Stichtag bereits bezahlten Verbindlichkeiten außer Acht lässt. Jedoch dienen die neueren Entscheidungen, wie in Streifzug 2 vom 06.10.2024 dargelegt, der prozessualen Beweiserleichterung und stellen das Fundament der skizzierten BGH-Entscheidungen von 2005 und 2017 nicht in Frage.
- cc) Materielle Lage
In den Blick zu nehmen ist bei dieser Entscheidungsexegese, dass Zahlungsunfähigkeit und der Zeitpunkt ihres Eintritts, rechtliche Wertungen sind. Die Kriterien, die in diese Wertung eingehen und die den BGH zu dem in Streifzug 2 dargelegten 10%-Schwellenwert geführt haben, sind in der Grundlagenentscheidung des BGH von 2005 dargelegt[11]: Dort führt der BGH zum seinerzeit neu formulierten § 17 Abs. 2 S. 1 InsO ausführlich aus, warum eine finanzielle Unterdeckung an einem Tag nicht zur Zahlungsunfähigkeit führt, wie lange der Betrachtungszeitraum für eine Beseitigung einer Unterdeckung ist und bis zu welchen Schwellenwerten die Rechtsordnung Unterdeckungen hinnimmt. Ausdrücklich lehnt der BGH die seinerzeit vertretene Ansicht ab, zahlungsunfähig sei ein Schuldner generell bereits dann, wenn er seine fälligen Verbindlichkeiten nicht - binnen der dreiwöchigen Frist - zu 100 % erfüllen kann.[12] Die Berechtigung einer Toleranzgrenze leitet er ab aus (1) den Gesetzesmaterialien, (2) den Nachteilen, die eine verfrühte Insolvenzanmeldung auch für die Gläubiger mit sich bringt, (3) dem mit dem Insolvenzverfahren verbundene Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen des Schuldners (Art. 12, 14 GG) und (4) gesamtwirtschaftlichen Erwägungen. Auch den Schwellenwert von 10 % leitet der BGH aus rechtlichen Abwägungen her: „Ein höherer Wert ließe sich mit der Absicht des Gesetzgebers, die Anforderungen an die Annahme der Zahlungsunfähigkeit abzusenken, schwerlich vereinbaren. Andererseits wäre ein niedrigerer Schwellenwert als 10 % - in Betracht kommt dann nur noch 5 % - dem rigorosen "Null-Toleranz-Prinzip" zu sehr angenähert, um noch praktische Wirkungen entfalten zu können.“[13] Nach allem entspringen die rechtlichen Vorgaben des BGH rechtlichen Wertungen. Dies gilt auch für die Formel von 2017 (AI + AII : PI + PII).[14] Überdies ist „Zahlungsunfähigkeit“ nicht anhand eines absoluten EUR-Betrages zu bestimmen. Dies zeigt der Schwellenwert von 10%, der zu unternehmensindividuellen Größen führt. Nur die Größen AII und PII reflektieren aber den Umfang der tatsächlichen Finanzströme des betroffenen Unternehmens. Die Verlaufsrechnung für den Der-Wochen-Zeitraum bildet dabei die Finanzmittel, die das betroffene Unternehmen in der Lebenswirklichkeit bewegt, realitätsnäher ab als die Statusbetrachtung oder eine Serie von bloßen Statusbetrachtungen. Hinzu kommt, dass nur eine Drei-Wochen-Planung die in dieser Zeit zu aktivierende Finanzreserven berücksichtigt, die zum Stichtag oder auch über eine ganze Serie von Stichtagen noch nicht eingelöst sind, z.B. weil der Schuldner die Zeit hierfür noch nicht für gekommen sieht (zB Warenlager oder andere working capital – Bestandteile). Hinzu kommt, dass Stichtage (und auch Serien von Stichtagen) stärker durch Zufälle in den Zahlungsläufen verzerrt sein können als Verlaufsbetrachtungen. Aus rechtlicher Sicht lässt sich der Rechenweg AI + AII : PI + PII daher nicht unter Verweis auf die betriebswirtschaftliche Rechensystematik aushebeln.
Fazit
Nach allem ist der Warnung in IDW S 11, die Formel AI + AII : PI + PII berge für den Anwender Haftungsrisiken, ihrerseits mit Vorsicht zu betrachten: Nicht nur ein verspäteter Insolvenzantrag kann Schaden stiften, sondern auch ein verfrühter. Abzugrenzen ist vielmehr nach den dargelegten rechtlichen Wertungen. Rechtliche Wertungen gehen betriebswirtschaftlichen Handreichungen vor. [15] Soweit IDW S 11 von der Rechtslage abweicht,[16] enthaftet er Gutachter, Prüfer oder Berater, die sich auf ihn stützen, nicht oder nur eingeschränkt.
[1] BGH, Urt. v. 18.11. 2020 - IV ZR 217/19.
[2] BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 3 der Gründe.
[3] Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16.
[4] IDW S 11, Rn. 51, 24 (Fn. 59).
[5] BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34, 41 ff., 62.
[6] Vgl. IDW S 11, Rn. 25, Fn. 11, wonach der BGH „Zahlungen auf fällige und fällig werdende Verbindlichkeiten“ nicht berücksichtigt.
[7] Rn. 51 f., 25; ebenso Philipp / Säuberlich, ZinsO FOKUS 2022, 677, 679, die kritisieren, dass diese Abweichung des IDW von der BGH-Rechtsprechung erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich bringt.
[8] BGH, Urt. v. 12.10.2006, IX ZR 228/03, Rn. 28.
[9] BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34, 41 ff., 62.
[10] Auch in diesem Verfahren bildeten die vorgelegten Status die Ist-Zahlen der Vergangenheit im betreffenden Drei-Wochen-Zeitraum ab; der Begriff „Prognosezeitraum“ soll also ersichtlich nicht darauf hindeuten, es gehe um eine aus ex ante Sicht vorgenommene Prognose, sondern nur den Beurteilungszeitraum von drei Wochen bezeichnen.
[11] BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 2 b der Gründe.
[12] BGH Urt. v. 24.05.2005 - IX ZR 123/04, unter II 3 der Gründe.
[13] Ebda.
[14] BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34, 41 ff., 62.
[15] Dazu allg. Spindler, in: Goette/Habersack (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 6. Aufl. 2023, § 93 Rn. 37; Grundei/ Reuter, „Agile“ Organisationsstrukturen: Unternehmerische Notwendigkeit oder organisierte Verantwortungslosigkeit?, DB 2024, 2309, 2314 f.
[16] Ebenfalls kritisch zur Abweichung des IDW von der BGH-Rechtsprechung Philipp / Säuberlich, ZinsO FOKUS 2022, 677, 679.