Verbessern Unternehmensstrafen die Compliance? Empirische Befunde mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen

RA Prof. Dr. Alexander Reuter, Köln

Die Gründe für white collar crime sind Gegenstand intensiver empirischer Forschung. Diese Gründe liegen in der Tat nicht auf der Hand: Denn die Manager, die die Taten begehen, sind Menschen, die nicht am Rande der Gesellschaft oder in kriminellen Milieus leben oder überfordert und verwahrlost auf die schiefe Bahn geraten. Vielmehr handelt es sich häufig um leistungskräftige, erfolgreiche Personen, die in der Mitte des Lebens und in der Mitte der Gesellschaft stehen, in ihrem sozialen Umfeld anerkannt sind und mit ihren Taten nicht nur ihre Karriere, sondern ihr bürgerliches Leben aufs Spiel setzen. Sie riskieren also typischerweise sehr viel mehr als andere Kriminelle. Mit den Worten eines US-Richters bei Verurteilung eines Mangers wegen Insider-Verstößen: „It is hard to understand why someone who has reached the pinnacle of success would risk all that for more“. Dass die ganz große Mehrheit der Manager ihre berufliche Laufbahn ohne Straftaten durchläuft, drängt die Frage auf, warum ein weißes Schaf schwarz wird. Es sind peers, Angehörige der gleichen sozialen Kohorte, die aus der Bahn geraten.

Die zahlreichen empirischen Studien, die in den vergangenen Jahren zu den Gründen für Wirtschaftskriminalität erstellt wurden, zeigen: (1) Wirtschaftskriminalität entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der Täter und situativen Gegebenheiten. (2) Es ist jedoch nicht möglich, zukünftige Täter im Vor-hinein zu identifizieren oder white collar crime ganz zu unterbinden. (3) Keiner empirischen Studie lässt sich ein Hinweis entnehmen, dass Täter vor der Tat die Konsequenzen bedenken, die ihr Verhalten für das Unternehmen mit sich bringt. (4) Dies bestätigt die Erkenntnis der Monopolkommission, dass Unternehmensbußgelder Mitarbeiter nicht zu rechtskonformem Verhalten anreizen, weil sie von solchen Bußen nicht oder kaum betroffen werde.

I. Einführung

1. Unternehmenssanktionen als „Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit“

Nach dem Koalitionsvertrag vom 12.03.20181 beabsichtigt die Große Koalition, das Recht der Unternehmenssanktionen (derzeit § 30 OWiG) zu novellieren. Unter anderem soll ein eigenes Gesetz zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht („Verbands-sanktionengesetz“) geschaffen und der Sanktionsrahmen für Unternehmen mit mehr als 100 Millionen Euro Umsatz von derzeitigen 10 Mio. Euro nach OWiG auf 10 % des Um-satzes angehoben werden. Ferner soll die Bestrafung von Unternehmen öffentlich be-kannt gemacht werden (Pranger). Entsprechend hat das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf vorgelegt2, der mittlerweile Gegenstand zahlreicher Stellungnahmen ist.3

In der Tat halten viele die effektive Sanktionierung von Unternehmen für den Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit. Dies zeigen nicht zuletzt die ständig steigenden Unterneh-mensbußen der Europäischen Kommission, aber auch der deutschen Behörden, die Gesetzgebung anderer Länder4 , insbesondere das vermeintliche Vorbild der USA5, die großflächige Berichterstattung in den Medien über Unternehmensskandale und die Wahrnehmung, Unternehmen seien „die wirkmächtigen Akteure unserer Zeit“. Auch der BGH hat 2013 darauf hingewiesen, dass Kartellverstöße „häufig das marktwirtschaftliche Gefüge in ganz erheblichem Umfang stören und große volkswirtschaftliche Schäden verursachen können“ und der damit verbundene „wirtschaftliche Vorteil … in der Regel bei dem Unternehmen eintritt“. Es bedarf nach dem BGH „deshalb der Androhung einer auch für Großunternehmen empfindlichen Geldbuße“.6

2. Mangelnde Eignung aus Rechtsgründen

Dieses Rechtsempfinden ist freilich brüchig: Auch die großen Skandale öffentlicher Institutionen haben bisher nicht zum Ruf nach Sanktionsmöglichkeiten gegen die betreffenden öffentlichen Körperschaften oder Anstalten geführt7. Wichtiger ist, dass Strafen und Bußen Grundrechtseingriffe sind. Sie lassen sich daher nicht allein auf Rechtsempfinden stützen, sondern müssen sich an den verfassungsrechtlichen Regeln messen lassen, die für Grundrechtseingriffe gelten. Der Verfasser hat an anderer Stelle dargelegt, dass Unternehmenssanktionen seines Erachtens die Grundrechte der Anteilseigner systemisch verletzen8, weil sie in den Anteilseignern die Falschen treffen. Als rechtlich ungeeignete Eingriffe sind sie daher verfassungswidrig. Unter dem Blickwinkel des Schuldprinzips handelt es sich obendrein um Schuld für andere, also verfassungswidrige „Sippenhaft“.

3. Mangelnde Eignung aus empirischen Gründen

Neben diesen rechtlichen Befund tritt die empirische Analyse: In der Tat wird der Ruf nach härteren Strafen schon durch den rechtstatsächlichen Befund gedämpft, dass die Zahl der Unternehmensstraftaten offenbar stetig zurückgeht. Dies mag vielerlei Gründe haben, sät freilich erste Zweifel, ob – jenseits der skizzierten rechtlichen Überlegungen – der Ruf nach härteren Unternehmensbußen der empirischen Wirklichkeit Rechnung trägt.9

4. Gegenstand des Beitrags und die Bedeutung für Compliance im allgemeinen

Diesen Zweifeln will der vorliegende Beitrag nachgehen: Wie und warum kommt es überhaupt zu white collar crime, und kann die Sanktionierung des Unternehmens, aus dessen Mitte der Täter das Recht gebrochen hat, angesichts der Gestehungsgründe von white collar crime einen Beitrag zu seiner Eindämmung leisten? Damit sind empirische Fragen gestellt. Sie blenden, um es zu wiederholen, die Überlegung aus, dass die die wirtschaftliche Sanktionierung der Anteilseigner, die in Unternehmenssanktionen liegt, bei den Anteilseignern schon aus Rechtsgründen keine präventive Wirkung entfalten kann und daher gegen die Verfassung verstößt. Vorliegend soll es nur um die gestellten empirischen Fragen gehen.

II. Position der Monopolkommission

Die Frage, ob die empirischen Befunde über die Gründe von Rechtsbrüchen, die aus Unternehmen heraus gegangen werden, die Empfindung stützen, Unternehmen müssten härter sanktioniert werden, hat durch das 72. Sondergutachten der Monopolkommission vom 15.10.2015 zur 9. GWB-Novelle zusätzliche Legitimation erfahren: Im Bereich der Kartellbußen hat die Monopolkommission die Fallpraxis der EU und Deutschlands ausgewertet und auf dieser Grundlage festgestellt, es sei im „Hinblick auf die general- und spezialpräventiven Ziele des Kartellsanktionssystems … zweifelhaft, ob selbst eine drastische weitere Erhöhung der verhängten Geldbußen zu einem ausreichend tief greifenden Bewusstseinswandel führen wird.“ Es sei „nicht unbedingt zu erwarten, dass Unternehmen durch höhere Geldbußen als Hauptsanktion von Kartellverstößen stärker abgeschreckt werden (Generalprävention). Auf der Grundlage dieses empirischen Befundes schlug die Monopolkommission im Rahmen der Diskussion der 9. GWB-Novelle daher eine Verschärfung der Verantwortung der handelnden Mitarbeiter vor, keine Erhöhung der Unternehmensbußen.10

III. Gründe für Fehlverhalten von Führungskräften

Der Beitrag kann sich zunutze machen, dass – unabhängig von den Untersuchungen der Monopolkommission – in jüngerer Zeit eine ganze Reihe empirischer Studien und Unter-suchungen zur Frage entstanden ist11, warum Führungskräfte in Unternehmen das Recht brechen, und ein Teil der Studien auch die Frage in den Blick nimmt, wie sich Regeltreue (compliance) verbessern lässt, bis hin zur Frage, ob sich Führungskräfte, die sich wahrscheinlich nicht an das Gesetz halten, im Vorhinein identifizieren lassen. Wie unten IV im Einzelnen dargelegt wird, zeigen die Studien, dass Bußgelder, die Unter-nehmen auferlegt werden, gegenüber den Individualtäter nicht abschreckend gewirkt haben. Die Studien kommen zu folgenden Ergebnissen: (1) Die Ursachen für Unternehmenskriminalität sind vielfältig; die Persönlichkeit des Managers und andere Fakto-ren, so auch Gegebenheiten im Unternehmen und der Branche, wirken zusammen. (2) Manager, die sich rechtswidrig verhalten, sind in der Regel Personen, die zuvor jahrelang erfolgreich für das Unternehmen tätig sind und sich zuvor nicht an Rechtsbrüchen beteiligt haben. (3) Die betreffenden Führungskräfte lassen sich nicht im Vorhinein sicher bestimmen, und die Verwendung der betreffenden Testmethoden stößt auf persön-lichkeits- und datenschutzrechtliche Einschränkungen.12 Dies führt zu zwei Schlussfolgerungen: Zum einen können Umstände, die Rechtsbrüche fördern („kriminogene“ Umstände), zwar bekämpft werden; Rechtsbrüche können aber nie ganz ausgeschlossen werden. Zum anderen ist es Aufgabe der obersten Leitungsebenen des Unternehmens, nach Möglichkeit im Vorhinein sowohl „kriminogene Umstände“ als auch Manager zu erkennen und entsprechende Verhinderungstaktiken gegen Rechtsbrüche zu entwickeln.13

IV. Neuere Studien zu den Ursachen rechtswidrigen Verhaltens

Julia Hugendubel hat den großen Verdienst, empirische Studien, die zwischen 1993 und 2013 über die Ursachen von Wirtschaftskriminalität entstanden sind, systematisch über-prüft zu haben. Auf der Grundlage der Sichtung der Studien durch Hugendubel lassen sich deren Ergebnisse wie folgt zusammenfassen.14

1. Empirische Studien: Wer begeht Wirtschaftskriminalität?

a) Keine wesentlichen Unterschiede in der Persönlichkeit/Motivation der Täter bei Rechtsbrüchen im (vermeintlichen) Interesse oder gegen das Unternehmen

Bemerkenswert ist, dass nach Hugendubel konnte keine der Studien bei der Analyse der Ursachen von Wirtschaftskriminalität signifikante Unterschiede feststellen zwischen der Persönlichkeit von Tätern, die zum Nachteil des Unternehmens han-deln (z.B. durch Veruntreuung von Geld), und Tätern, die im vermeintlichen Interesse des Unternehmens handeln (z.B. bei Kartellabsprachen oder aktiver Bestechung).15 Diese Unterscheidung ist freilich ohnehin verschwommen, da Täter bei ihren Handlungen häufig das (vermeintliche) Unternehmensinteresse mit ihrem eigenen Interesse verknüpfen, z.B. über Karriere- oder Bonus-Erwartungen. Da die empirischen Studien keine Unterschiede zwischen diesen beiden Tätertypen feststellen konnten, unterscheiden die Maßnahmen, die die Studien zur Verhinderung rechtswidrigen Verhaltens empfehlen, auch nicht zwischen diesen beiden Verhaltensweisen16.

b) Grundlegende Persönlichkeitsmerkmale der Täter

Alle empirischen Studien kommen zu dem Schluss, dass die meisten Wirtschafts-kriminellen männlich sind, mindestens einige Jahre erfolgreich für ihr Unternehmen gearbeitet haben, bevor sie kriminell wurden, in der Regel zwischen 35 und 60 Jahre alt sind (was Sutherlands Feststellung bestätigt, dass Wirtschaftskriminelle nach ihrer Biografie eher „Nachzügler“ sind”17), leitende Positionen im Unternehmen innehaben, typischerweise in Zusammenarbeit mit anderen Managern vorgehen, gut ausgebildet sind, im Allgemeinen übliche Ansichten über Sozial- und Rechtsstandards teilen, aber Ausnahmen für sich selbst oder ihre Führungsebene machen, hedonistisch und finanziell anspruchsvoll sind.18 In ihrer Studie über die Täter von Unternehmenskorruption stellt Bannenberg zudem fest, dass die von ihr untersuchte Gruppe sich durch Unauffälligkeit kennzeichne.19

c) Motive und Persönlichkeitsmerkmale

Collins/Schmidt wiederum haben messbare Unterschiede in der Persönlichkeit von Wirtschaftskriminellen und gesetzestreuen Managern festgestellt. Erstere neigten im Vergleich zu ihrer peer group zu Verantwortungslosigkeit, Unzuverlässigkeit, Miss-achtung rechtlicher und sozialer Regeln und Risikobereitschaft („Risikoträger“).20 Blickle/Schlegel/Fassbender et al. haben die Studie von Collins/Schmidt erweitert und einen signifikant erhöhten Grad an Hedonismus, Narzissmus und mangelnder Selbstbeherrschung in der Persönlichkeit von Wirtschaftskriminellen im Vergleich zu gesetzestreuen Managern festgestellt.

KPMG hat verschiedene Studien durchgeführt, die zu dem Schluss kommen, dass die Ursachen von Rechtsbrüchen häufig aus einer Kombination verschiedener Fak-toren resultieren, nämlich (1) der Möglichkeit von Fehlverhalten, (2) der Motivati-on/Persönlichkeit des Täters und (3) der Verfügbarkeit einer innerlichen Neutralisierung oder Rechtfertigung des Unrechts.21 Die statistisch signifikantesten der von KPMG identifizierten Motive der Täter sind finanzielle Vorteile (Notwendigkeit der Finanzierung eines extravaganten Lebensstils, finanzielle Schwierigkeiten, Gier, Angst vor dem Verlust des sozialen Status). Außerdem stellte KPMG fest, dass viele Täter sich durch ein Gefühl der Überlegenheit kennzeichnen und (wie auch von Collins/Schmidt festgestellt) meinen, dass die Regeln für normale Mitarbeiter nicht für Manager ihrer Führungsstufe gelten.22 KPMG stellte auch einen zunehmenden Trend zum Einsatz von EDV zu kriminellen Zwecken fest.23

Die empirische Studie von Rölfs Partner / Schneider bestätigt die oben erwähnte Erkenntnis Wheelers, dass aus Unternehmen handelnde Täter zu einer falschen Kosten-Nutzen-Analyse ihrer Handlungen neigen, insbesondere zum reinen das Risiko der Aufdeckung ihrer Tat und zum anderen die Sanktionen unterschätzen24. Die Studie kategorisiert Täter in vier Typen, nämlich: (1) „Falschdarsteller mit Belastungssyndrom „, die Chancen suchten und wahrnähmen, insbesondere in Situatio-nen, in denen sie sich geringeren Kontrollen ausgesetzt sähen; solche Täter gehörten oft zu Subkultur-Gruppen in ihrem Unternehmen und hätten hohen Finanzbedarf für einen teuren Lebensstil; (2) „Falschdarsteller infolge von Krisen“, die innerhalb der sozialen Normen leben, oft die Unternehmenshierarchie und die soziale Leiter hochgestiegen sind, aber durch eine Krise aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Im Gegensatz zu „Typ“ (1) sucht und findet dieser Tätertyp keine innerlichen Rechtfertigungen, sondern ist sich des Rechtsbruchs bewusst und hat eine starke Tendenz, nach Entdeckung zu gestehen. (3) „Mitläufer“, d.h. Täter, die wie Typ (1) Teil von Subkultur-Gruppen in ihrem Unternehmen sind, Chancen zwar nicht aktiv su-chen oder schaffen, aber ergreifen, wenn sie sich bieten, Mitläufer in diesen Gruppen sind und Druck fürchten, wenn sie nicht mitspielen. (4) „Unauffälligen“, d.h. Täter, die sich in der Regel an die Regeln halten, aber Beziehungen zu anderen Tätern im Unternehmen haben und Gelegenheiten zu ihrem Vorteil ergreifen.25

Unterschiedliche Kategorien von Tätern schlagen demgegenüber Cleff/Naderer/Volkert vor,26 die zwischen dem „egozentrischen Visionär“, dem „frus-trierten Visionär“, dem „narzisstischen Visionär“, dem „abhängigen Typ“ und dem „naiven Typ“ unterscheiden. Die Merkmale dieser „Typen“ ähneln Merkmalen von Tätertypen anderer Studien, wenn auch etwas anders gruppiert. Die Studie bestätigt auch das Ergebnis der anderen Studien, dass Täter oft erfolgreiche Manager sind und sowohl ehrgeizig als auch ausdauernd sind.27 Darüber hinaus sehen Cleff/Naderer/Volkert einen gewissen Zusammenhang zwischen Fehlverhalten einerseits und der relevanten Branche sowie Unternehmensstrukturen andererseits: Besonders gefährdet seien Branchen mit hohen Transaktionsvolumina wie Finanzierung oder Immobilien. Ein erhöhtes Risiko bestehe auch bei zu komplexen Unternehmensstrukturen sowie bei veralteten und starren Unternehmensstrukturen.28

Hugendubels Überblick über empirische Studien endet mit Schlegels vergleichender Analyse der Werte von verurteilten und nicht verurteilten Managern. Nach Schlegel sind straffällige Manager narzisstischer als sonstige Manager, und messen Werten wie „Macht“, „Leistung“, „Hedonismus“, „Konformität“, „Sicherheit“ und „Wohlwollen“ deutlich mehr Wertschätzung und Bedeutung. Allerdings bestätigen nicht alle Ergebnisse die Erwartung: Schlegel notiert eine stärkere „Neigung“ zu rechtswidrigem Verhalten unter den nicht straffälligen Managern als unter den straffälligen Managern, weist aber umgekehrt darauf hin, dass straffällige Manager stärker dazu neigten, Fragen in einer Weise zu beantworten, die ihnen sozial wünschenswert erscheint.29

2. Schlussfolgerungen aus den empirischen Studien: Grenzen der Prävention

Quintessenz aller empirischen Studien ist, dass es vielfältige Tätertypen gibt, dass die Gestehungsgründe für Rechtsbrüche ebenso vielfältig sind und dass Gründe für Rechtsbrüche aus der dynamischen Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und situativen Gegebenheiten („Gelegenheiten“) entstehen. All‘ dies macht es jedoch unmöglich, Wirtschaftskriminalität vollständig zu verhindern. Dies gilt insbesondere für Persönlichkeitstests, die bezwecken, Wirtschaftskriminelle im Vorhinein zu identifizieren, sei es anhand der oben genannten Typologie oder anderweitig. Denn zum einen finden sich viele der in den Studien identifizierten „kriminogenen“ Persönlichkeitsmerkmale auch bei erfolgreichen Managern, die jedoch nie straffällig werden . Zum anderen gibt es die erwähnte mehrfache Interaktion zwischen Persönlichkeit und situativen Umständen, wie z.B. persönliche Krisen, sich ergebende Chancen, Beispiele von Fehlverhalten im Unternehmen, denen andere folgen, Beförderung des Managers in eine Position, die das Fehlverhalten ermöglicht, etc.31 Daher ist eine Prognose, dass ein bestimmter Manager in naher oder ferner Zukunft gegen die Regeln verstoßen wird, unmöglich.32

Für die Beurteilung des empirischen Hintergrunds von Unternehmenssanktionen ist nach den Erkenntnissen der empirischen Studien also festzuhalten, dass (1) Wirtschaftskriminalität durch Interaktion zwischen Persönlichkeiten und Umständen verursacht wird, (2) es unmöglich ist, zukünftige Täter im Voraus zu identifizieren und (3) es zwar möglich ist, Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ganz ausgeschlossen werden können. „Schwarze Schafe“ werden sich also stets unter den vielen „weißen Schafen“ finden, und ein „Bodensatz“ von Rechtsbrüchen wird also bleiben.33

V. Vermeidung von Fehlverhalten durch Unternehmensstrafen?

Keiner der empirischen Studien läßt sich ein Hinweis entnehmen, wonach Täter in ihre Entscheidung, ob sie zum Rechtsbruch schreiten oder nicht, die Konsequenzen einflie-ßen lassen, die ihr Verhalten für das Unternehmen mit sich bringt. Im Gegenteil, die empirischen Studien belegen, dass Wirtschaftskriminelle generell eine verzerrte Kosten – Nutzen – Analyse anwenden, also das Risiko der Aufdeckung und deren Konsequenzen unterschätzen.34 Die Drohung, ihr Verhalten werde bestraft, hält sie also nicht von ihren Taten ab. Es erscheint plausibel, dass dies erst recht gilt, wenn der nicht der Täter, sondern das Unternehmen sanktioniert wird, also Dritte.35 Dies wiederum fügt sich in die bereits oben II dargelegten Erkenntnisse der Monopolkommission: Wie bereits erwähnt zieht die Monopolkommission den Schluss, dass „die [unternehmens-] bußgeldbasierte Kartellverfolgung auf mittel- oder längerfristige Sicht zunehmend an ihre Grenzen stoßen wird, ohne dass zugleich die Verbreitung von Kartellen in einer wettbewerbspolitisch zufriedenstellenden Weise abnehmen dürfte.“36 Dies wiederum steht in Einklang damit, dass die dargestellten empirischen Studien zwar darauf hinweisen, die Persönlichkeit der Täter wirke mit den situativen Gegebenheiten im Unternehmen als Ursache für white collar crime zusammen. Die obige Liste der empfohlenen Compliance Maßnahmen (oben unter IV 2) zeigt aber, dass zur Präventionsvorsorge Maßnahmen empfohlen werden, die sich an der Persönlichkeit der Täter orientieren. Hieraus ist für den Gegenstand dieses Beitrages zu folgern: Unternehmenssanktionen sind nicht nur aus Rechtsgründen ungeeignet, Wirtschaftskriminalität und sonstigen Regelbrüche in Unternehmen entgegenzuwirken, sondern auch aus empirischer Sicht.

VI. Ergebnis

Zahlreiche empirische Studien, die in den vergangenen Jahren zu den Gründen für Wirtschaftskriminalität erstellt wurden, zeigen, dass Wirtschaftskriminalität durch die Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der Täter und den situativen Gegebenheiten verursacht wird, dass es unmöglich ist, zukünftige Täter im Vorhinein zu identifizieren, und dass es zwar möglich ist, die Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ausgeschlossen werden können. Demgegenüber lässt sich keiner der empirischen Studien ein Hinweis entnehmen, wonach Täter in ihre Entscheidung, ob sie zum Rechtsbruch schreiten oder nicht, die Konsequenzen einfließen lassen, die ihr Verhalten für das Unternehmen mit sich bringt. Im Gegenteil, die empirischen Studien belegen, dass Wirtschaftskriminelle generell eine verzerrte Kosten – Nutzen – Analyse anwenden, also das Risiko der Aufdeckung und deren Konsequenzen un-terschätzen. Die Drohung, ihr Verhalten werde bestraft, hält sie also nicht von ihren Taten ab. Es erscheint plausibel, dass dies erst recht gilt, wenn der nicht der Täter, sondern das Unternehmen sanktioniert wird, also Dritte. Dies wiederum bestätigt die Erkenntnis der Monopolkommission, dass Unternehmensbußgelder Mitarbeiter nicht zu rechtskonformem Verhalten anreizen, weil sie davon nicht betroffen sind. Dies aber heißt: Unternehmenssanktionen sind nicht nur aus Rechtsgründen ungeeignet, Wirtschaftskriminalität in Unternehmen entgegenzuwirken, sondern auch aus empirischer Sicht. Dies bestärkt die an anderer Stelle dargelegte Ansicht des Verfassers, dass Unternehmenssanktionen die Grundrechte der Anteilseigner systemisch verletzen.37

1 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1; Rn. 5895 ff.

2 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.pdf;jsessionid=2470AEC7D5FC666F4A9D67704CDE6661.1_cid289?__blob=publicationFile&v=2

3 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.html

4 Vgl. z.B. Kubiciel, Die deutschen Unternehmensgeldbußen: Ein nicht wettbewerbsfähiges Modell und seine Alternativen, NZWiSt 2016, 178 ff.

5 Dazu z.B. Hoven/Weigend, Praxis und Probleme des Verbandsstrafrechts in den USA, ZSTW 2018,213 ff.; Vgl. aber auch die Tendenz zur stärkeren Betonung der Verantwortung der handelnden natürlichen Personen iim Yates-Memorandum, im Yates – Memorandum , https://www.justice.gov/archives/dag/file/769036/download.

6 BGH, 26.2.2013 – KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 60.

7 Und dies, obwohl z.B. der Unwertgehalt der in Medienberichten kolportierten Verschleppung der Unterbindung des Vertriebs gestohlener und unwirksamer Krebsmedikamente durch das Lanesge-sundheitsministerium Brandenburg trotz Hinweisen der zuständigen Landespolizei jedes Kartell weit in den Schatten stellt (wenn die Medienberichte richtig sind); vgl. https://www.berliner-zeitung.de/berlin/brandenburg/gefaelschte-krebsmedikamente-staatsanwaltschaft-ermittelt-bereits-seit-2017-30986478; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-08/brandenburg-medikamentenskandal-gesundheitsministerin-diana-golze-ruecktritt. Dass die Große Koalition offenbar gleichwohl nur Unternehmen für Rechtsverstöße sanktionieren will, ist möglicherweise ein unterstützendes Indiz dafür, dass der Koalitionsvertrag einen verfassungsrechtlichen Holzweg eingeschlagen hat. Dem kann hier nicht nachgegangen werden.

8 Reuter, Unternehmensgeldbußen, Organregress, Grenzen der Versicherbarkeit und Gesellschaftsrecht: Eine systemische Verletzung der Grundrechte der Anteilseigner?, BB 2016, 1283; ders., Unternehmensbußen – ein verfassungsrechtlicher Holzweg, ZIP 2018, 2298; ders., Schadensersatz und Bußgelder zu Lasten des Unternehmens bei Ad hoc-Pflichtverstößen: Ein Verstoß gegen die Grundrechte und die Treuepflicht der Aktionäre?, NZG 2019, 321.

9 Heuking/von Coelln, Die aktuelle Diskussion um Buße oder Strafe für Unternehmen, BB 2014, 3016, 3020 f., zum Erfordernis eines Unternehmensstrafrechts.

10 Ebda., Tz. 191 ff.

11 Siehe näher unter IV.

12 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 105 ff., 116 ff., 167, 183 ff. und passim.

13 Ausführlicher: Reuter, EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose, European Criminal Law Review (EuCLR), Jg. 10 (2020), S. 365 ff., DOI: 10.5771/2193-5505-2020-3-365.

14 Ausführlicher: Reuter, EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose, European Criminal Law Review (EuCLR), Jg. 10 (2020), S. 365 ff., DOI: 10.5771/2193-5505-2020-3-365.

15 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 100.

16 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 100.

17 Zitiert nach Schneider, Hendrik, Das Leipziger Verlaufsmodell wirtschaftskriminellen Handelns, NStZ 27 (2007), 555, 557/558.

18 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 60, 63/64, 66. 68, 78.

19 Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtlich Kontrolle, eine empirisch-strafrechtliche Analyse, Neuwied/Kriftel, 2002, S. 216 f., 347.

20 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 56, 58, 83; Collins/Schmidt, Personnel Psychology 46 (1993), 295, 297, 308.

21 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 6 ff.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64.

22 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 6 ff.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64.

23 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 2.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64.

24 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 10.

25 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 18/19.

26 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 75, unter Verweis auf Thomas Cleff / Gabriele Naderer / Jürgen Volker, Motive der Wirt-schaftskriminalität, MschKrim 94 (2011), 4, 5 ff.

27 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 72, unter Verweis auf Thomas Cleff / Gabriele Naderer / Jürgen Volker, Motive der Wirt-schaftskriminalität, MschKrim 94 (2011), 4, 9.

28 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 72, unter Verweis auf Thomas Cleff / Gabriele Naderer / Jürgen Volker, Wirtschaftskriminalität, 2009, S. 30.

29 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Alexander Schlegel, Wertehaltung inhaftierter Wirtschaftsdelinquenten, in: Alexander Schlegel (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und Werte, Nordhausen 2003, 113, 114 ff., 181.

30 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 161.

31 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 161/162.

32 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 162, unter Verweis u.a. auf Kai-D. Bussmann, Kriminalprävention durch Business Ethics, zfwu 5 (2004), 35, 41; Schuchter, ZRFC 2010, 80, 83; Schuchter, Perspektiven verurteilter Wirt-schaftsstraftäter, 2012, S. 80; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl 1996, S. 853.

33 Ausführlicher: Reuter, EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose, European Criminal Law Review (EuCLR), Jg. 10 (2020), S. 365 ff., DOI: 10.5771/2193-5505-2020-3-365.

34 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 10.

35 Vgl. Eugene Soltes, Why They Do It- Inside the Mind of the White-Collar Criminal, New York, 2016, S. 325: “And, ironically, fines levied on offending firms are ultimately paid by the shareholders rather than by the executives or employees who actually engaged in the misconduct. Without specter of the full justice system hanging over them as is the case with individual defendants, labeling firms as criminal often has surprisingly weak, or even misdirected, effects”.

36 Ebda., Tz. 179.

37 Ausführlicher: Reuter, EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose, European Criminal Law Review (EuCLR), Jg. 10 (2020), S. 365 ff., DOI: 10.5771/2193-5505-2020-3-365.

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